Es besteht seit Langem schon die Neigung, das Wissen über die Realität in ordentliche Strukturen von Netzen zu bringen. Spätestens mit der Entwicklung der exakten Wissenschaften in der Neuzeit ist dieses Modell zum grundlegenden Paradigma der Erkenntnis geworden. Wir zerschneiden das real vorgefundene Gewebe der Wirklichkeit, um eine wesentliche Ordnung der Dinge freizulegen, die wir dann als unser Wissen über die Realität bezeichnen – oder schneiden wir vielleicht das Gewebe so zurecht, dass ein ordentliches Kunstwerk entsteht? Jeder kennt das undurchdringliche Gewirr der Äste und Verzweigungen einer wilden Hecke – und jeder kennt auch die kunstvoll geschnittenen Formen, Bögen, Schwünge, die die Gartenmeister aus diesen Hecken gestalten können. Vielleicht ist die Realität, die wir in den letzten Jahrhunderten wissenschaftlich zu verstehen gelernt haben, vor allem die menschlich geformte Wirklichkeit – die diesen Parks und Gärten vergleichbar ist, und über die Geflechte der Wildnis wissen wir ungefähr so viel, wie wir an einer frisch geschnittenen Hecke über einen Urwald herausfinden können.
Ein Beispiel: Was weiß ich über die Form von Schneeflocken? In der Schule habe ich gelernt, dass sie immer sechs Ecken oder Strahlen haben, an denen in schöner Regelmäßigkeit immer feinere Abzweigungen wachsen, sodass Schneeflocken wundervolle symmetrische Gebilde sind. In meinen Lehrbüchern habe ich damals zumeist Strichzeichnungen gesehen. Heute kann ich in der Bildersuche meiner Internetsuchmaschine nach dem Aussehen wirklicher Schneeflocken fahnden. Das Ergebnis ist schön, aber doch ein wenig irritierend. Zwar sind die sechs Ecken und Strahlen der gefundenen Schneeflocken immer gut erkennbar und die Symmetrie ist tatsächlich auch beeindruckend. Aber wenn ich mit kritischem Blick auf die Fotos sehe, ist keine Schneeflocke ganz makellos. Dabei könnte man doch erwarten, dass Menschen nur Fotos besonders schöner, klassischer Schneeflocken ins Netz stellen.
Sollte es wirklich so schwer sein, schön symmetrische Schneeflocken zu finden? Wenn es gerade schneit, während Sie dieses Buch lesen, legen Sie es beiseite und treten Sie vor die Tür. Versuchen Sie unter den Millionen von Flocken, die da herunterfallen, ein paar wirklich symmetrische zu finden. Sicher werden Sie immer die Sechseck- oder Sechs-Strahlen-Form finden, aber wenn Sie ein einziges Exemplar finden, das auch nur so schön symmetrisch ist wie die, die Sie auf den Fotos im Netz gefunden haben, machen Sie bitte schnell ein Bild und stellen es ins Netz, damit wir alle uns daran erfreuen können.
Falls gerade Sommer ist, dann schauen Sie sich statt der Schneeflocken die wirklichen Formen von Blättern oder Schneckenhäusern an. Vergleichen Sie sie mit Darstellungen in Büchern. Auch hier werden Sie, wenn Sie genau hinsehen, schnell feststellen, dass die Wirklichkeit nicht so symmetrisch und gleichmäßig ist, wie unsere mathematisch-geometrischen Beschreibungen es vermuten lassen.
Unser Wissen, das wir zumeist in der Schule und in der Ausbildung, im Studium, durch das Lesen von Sachbüchern und Zeitschriftenartikeln erworben haben, hat die ordentliche, oft hierarchische Struktur eines Netzes, es bildet kein Geflecht mit fließenden Übergängen und kleinen Differenzen. Die unendliche Vielfalt der Realität ist auf klare Begriffe, Kategorien und Definitionen reduziert. Das betrifft nicht nur das Wissen über die Wirklichkeit, die wir Natur nennen, sondern auch unser Wissen über die technischen Dinge, die wir Menschen selbst geschaffen haben, sowie unser Wissen über die Handlungen von Menschen, unsere Vorstellungen über die Institutionen, Unternehmen, Parteien, Fußballclubs usw. Für all diese Phänomene haben wir klare, gut definierte Kategorien parat, wir können sie in gedruckten Lexika oder bei Wikipedia nachlesen, und diese Definitionen sagen uns, wie etwas aussieht, wie es sich verhält und wie es mit anderen Dingen zusammenhängt. Das Netzwerk dieser Kategorien und Definitionen ist mein Wissen.
Auszug aus dem Buch “Kritik der vernetzten Vernunft” von Jörg Friedrich