Wir können nicht von der Kultur sprechen, ohne von Technik zu sprechen. Beide Begriffe gehören unauflösbar zusammen, sie sind zwei Seiten des gleichen Phänomens. Der Begriff der „Kulturtechnik“ weist schon darauf hin, dass alle Kultur aus Techniken besteht und dass andererseits durch Kultur das, was wir Technik nennen, erst möglich wird.
Kultur können wir als den regelmäßigen Eingriff von Menschen in die Realität betrachten, sodass Wirklichkeit entsteht, die mit einer Welt zusammenpasst.
Regelmäßig bedeutet dabei zweierlei, zum einen das Regel-Gemäße dieses Eingriffs, also die Tatsache, dass der Eingriff nach vorbestimmten, vereinbarten Regeln erfolgt, zum anderen den wiederkehrenden Charakter des Eingriffs, der immer von Neuem der eindringenden Wildnis Einhalt gebietet.
Ich möchte das mit ein paar Beispielen erläutern: Meinem Weltbild entsprechend, also in meiner Welt, wachsen alljährlich zu bestimmten Jahreszeiten bestimmte Blumen, an denen ich mich erfreuen kann. Diesem Weltbild entsprechend habe ich vor Jahren Blumenzwiebeln in meinem Garten in die Erde gebracht und verschiedene Stauden angepflanzt. So habe ich Wirklichkeit geschaffen. Es ist klar, dass eine ganz konkrete Bedingung dieser Möglichkeit bereits das Vorhandensein anderer kultureller Regeln und mein Eingebundensein in das Wirken dieser Regeln war, z. B. die Möglichkeit, Zwiebeln und Stauden sowie Werkzeuge und Dünger beim Gärtner zu erwerben, sowie die Zuchtprogramme der Pflanzenproduzenten, die sicherstellen, dass klar definierte Sorten von Pflanzen, die für meinen Garten geeignet sind, überhaupt existieren. All diese Regeln sind Bestandteil meiner Welt, die bereits mit meiner Wirklichkeit synchronisiert ist, und diese Synchronisation erfolgt über kulturell geprägte Regeln, die ich mehr oder weniger explizit gelernt habe.
Damit nun tatsächlich in meinem Garten das passiert, was ich erwarte, damit also meine Welt und meine Wirklichkeit auch auf den paar Quadratmetern hinter meinem Haus zusammenpassen, ist einiges zu tun, u. a. muss ich, nach Anweisung des Pflanzenlieferanten, jährlich bestimmten Dünger ausbringen, die Pflanzen zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückschneiden, die Beete von anderem Gewächs, dem so genannten Unkraut, freihalten usw. Ich wende also regelmäßig vorgegebene Regeln an, um in der Wirklichkeit das zu erreichen, was mir in meiner Welt vorschwebt: blühende Schneeglöckchen im Januar, Krokusse im März, Tulpen im April, Rosen im Sommer usw. So entsteht hinter meinem Haus ein Kulturgarten. Jede der Regeln, die ich angewandt habe, war zugleich eine Technik: die Technik des Einkaufens, die Technik des Pflanzens, die Technik der Beetpflege. Nur wenn ich diese Techniken beherrsche, wird aus meinem Garten wirklich ein Stück beherrschtes Land, das auf Zeit der Wildnis entrissen und der Wirklichkeit meiner Kulturwelt einverleibt wurde.
Das Beispiel zeigt sehr schön, dass Kultur als herbeigeführte Übereinstimmung von Welt und Wirklichkeit zwar bestimmte, gewollte Erfahrungen erst ermöglicht, zum Beispiel das Betrachten einer Rosenblütenpracht, die nur durch den gekonnten, technisch perfekten Umgang mit Dünger, Hacke und Rosenschere möglich ist, andere Erfahrungen jedoch ausschließt und verhindert, so zum Beispiel das Durchqueren eines Dickichts aus Rosengestrüpp, Brennnesseln und Quecken. Kultur heißt immer, Ordnung in die Realität zu bringen, denn eine Wirklichkeit, die mit einer Kulturwelt zusammenpasst, ist eine geordnete Welt, die den Regeln gehorcht, die die Kultur ihr vorschreibt. Natürlich gehorcht die Realität auch in dieser kulturellen Wirklichkeit keinen Regeln.
Den Regeln gehorchen immer nur die Menschen, die in die Regellosigkeit der Realität regelmäßig eingreifen, um der Wildnis eine Grenze zu setzen.
In meinem Garten wirkt jedoch auch Realität, die nicht meiner technischen Kontrolle unterliegt. Eine lange Trockenheit im Sommer oder ein harter Frost im Winter können dazu führen, dass trotz aller Regelanwendung nichts aus der Blütenpracht im Garten wird. Ich kann versuchen, meinen Garten davor zu schützen, indem ich zusätzliche Technik anwende: Mit einer Beregnungsanlage kann ich die Trockenheit ausgleichen, dem Frost kann ich mit einer Abdeckung begegnen. Damit kommt der Begriff der Künstlichkeit ins Spiel: Wir sprechen von künstlicher Bewässerung oder von künstlichen Bedingungen, unter denen die Pflanzen den Frost überstehen. Was ist damit gemeint, und wie grenzt sich diese Künstlichkeit von der kulturellen Wirklichkeit ab, die ich z. B. mit dem Begriff Kulturgarten bezeichne?
Auszug aus dem Buch “Kritik der vernetzten Vernunft” von Jörg Friedrich