Wo steckt das Wissen?

Ich war mir völlig sicher, dass mein Notebook im Arbeitszimmer steht. Gestern Abend, das weiß ich, habe ich es ausgeschaltet, zugeklappt und dann habe ich ohne Notebook das Zimmer verlassen. Eben gerade noch hätte ich gesagt, dass ich weiß, dass es dort steht. Nun komme ich ins Zimmer – und es ist nicht da. Ich habe mich geirrt.

Nur über Dinge, die man weiß, kann man sich irren. Mein Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass ich daran nicht zweifeln kann, aber andere schon.

Es könnte z. B. sein, jemand hätte mich gestern Abend mit meiner Notebooktasche aus dem Arbeitszimmer kommen sehen. Er vermutet, dass der Computer darin war, und zweifelt deshalb daran, dass das Gerät noch auf dem Tisch steht. Es stellt sich heraus, dass der Zweifel berechtigt war und ich mich geirrt habe. Es könnte auch sein, er selbst hat das Notebook weggeräumt. Dann zweifelt er nicht, er weiß, dass ich mich irre.

Wenn es mir des Öfteren passiert, dass ich vergesse, was ich getan habe (dass ich z. B. das Notebook aus dem Arbeitszimmer mitgenommen habe), dann kann ich an meiner Überzeugung schon zweifeln, ohne dass ich Hinweise darauf hätte, dass sie falsch ist. Das ist dann allerdings ein unbestimmter, nebulöser, unbegründeter Zweifel. Auf bestimmte Überzeugungen verlässt man sich einfach, zum einen auf die Dinge, die man unmittelbar beobachten kann, zum anderen auf die klaren Erinnerungen an eigene Beobachtungen.

Um eigene Erinnerungen zu stabilisieren, benutzen wir Hilfsmittel. Ich könnte mir angewöhnen, von jedem Raum, den ich verlasse, mit meinem Smartphone ein Foto zu machen, das Foto könnte ich auf meinen Web-Space hochladen und damit fast jederzeit und überall überprüfen, ob ich mein Notebook im Arbeitszimmer zurückgelassen habe. Ich könnte an wichtigen Orten sogar eine Webcam installieren und dort nachsehen, ob der Raum sich noch in dem Zustand befindet, wie ich ihn der Erinnerung nach verlassen habe.

Wenn ich so vorgehe, dann beginne ich sozusagen, mein Gedächtnis auszulagern, um meine Zweifel über das, was ich zu wissen glaube, verkleinern zu können. Das haben wir schon immer getan, seitdem wir z. B. Telefonnummern aufschreiben oder Urlaubsfotos in Fotoalben kleben und mit Ort und Datum beschriften, um uns besser erinnern zu können, wann wir wo gewesen sind. Solche Informationen im Netz abzulegen erweitert diese Möglichkeit zunächst nur graduell und nicht qualitativ. Wir können dann also, wenn wir Zweifel an einer Überzeugung aus der Erinnerung haben, auf solche Erweiterungen unseres Gedächtnisses zugreifen, um Zweifel zu zerstreuen oder zu bestätigen.

Ich kann jedoch auch noch einen großen Schritt weitergehen. Ich kann z. B., wenn ich meine Urlaubsbilder ins Album geklebt oder auf meinem Facebook-Account hochgeladen habe, die Detailinformationen einfach vergessen. Es ist zwar gar nicht so leicht, etwas aktiv zu vergessen, aber es macht natürlich einen Unterschied, ob ich mir Informationen eigentlich gut merken will und nur im Notfall auf externe Erinnerungshilfen vertrauen möchte oder ob ich die Informationen von Anfang an mit der Gewissheit aufnehme, dass ich sie sozusagen im Kopf nur so lange zwischenspeichere, bis ich sie extern, sicher, unzerstörbar und nicht fälschbar abgelegt habe. Mein eigenes Gedächtnis, so gut es trainiert sein mag, ist trügerisch und vor allem nicht überprüfbar, nicht einmal durch mich selbst, so könnte man argumentieren, sicher ist nur, was ich irgendwo aufgeschrieben, abgespeichert – verewigt – habe, also ist es gar nicht sinnvoll, sich etwas zu merken. Sinnvoll kann nur sein, alle Informationen sicher und überall abrufbar abzuspeichern und sich lediglich zu merken, wo sie gespeichert sind.

Auszug aus dem Buch „Kritik der vernetzten Vernunft“ von Jörg Friedrich

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