Warum glaube ich der App?

Die Tatsache, dass es möglich ist, einer Anzeige meines Smartphones mehr zu glauben als der Aussage meines Freundes, der vor Ort ist, ist schon ein wenig überraschend. Ich weiß nichts über den Service, der die Informationen auf dem Gerät bereitstellt, ich weiß nicht, wann und wo die Daten erhoben wurden, wie sie aktualisiert werden. Es könnte sein, irgendwo in Amerika oder in China sitzen ein paar hundert Leute, die nach Gutdünken oder Lust und Laune Zahlen in Computer eingeben, die dann auf meinem Dis-play als Temperatur von Münster erscheinen. Es könnte auch sein, dass es tatsächlich ein paar Orte in Deutschland gibt, an denen Temperaturen gemessen werden, und irgendein kluger Algorithmus berechnet nach mathematischen Verfahren die Temperatur, die demnach am besten zu Münster passen könnte. Es könnte natürlich auch sein, dass die Firma, die die App bereitstellt, tatsächlich über ein gigantisches weltweites Mess-netz für meteorologische Daten verfügt und mir damit wirklich von jedem Ort der Erdoberfläche die richtigen Temperaturdaten liefern kann.

Verschiedene Menschen werden beim Nachdenken über diese Möglichkeiten zu unter-schiedlichen Ergebnissen kommen, welche davon sie selbst für möglich, unmöglich oder wahrscheinlich halten. Das hängt ganz von ihren sonstigen Überzeugungen ab. Wenn eines der Szenarien widerspruchslos in mein Überzeugungssystem passt, dann halte ich es für wahr. Dieses Überzeugungssystem ist natürlich unglaublich vielfältig und im Laufe der Zeit gewachsen.

Mein eigenes Überzeugungsnetz ist mir selbst nie komplett bewusst.

Was gehört z.B. alles zu den notwendigen Überzeugungen, die ich haben muss, um irgendwo im Zug zu sitzen und zu sagen, dass es in Münster gerade 11 °C sind, nur weil es auf dem Display meines Smartphones so steht?

Dazu gehört z.B. die Überzeugung, dass das Gerät tatsächlich mit irgendwelchen Servern in Irland oder Amerika verbunden ist, die wiederum mit Thermometern in allen möglichen Orten vernetzt sind, von denen sie Daten einsammeln und diese auf Anforderung jedem Smartphone übermitteln. Ich habe diese Server und ihre Netzwerke nie gesehen, aber es gibt eine Menge von Geschichten über solche Server und solche Netz-werke, die wir uns ständig gegenseitig erzählen. Das meiste von dem, was ich mit meinem Smartphone erlebe, ist überhaupt nur plausibel unter der Annahme, dass es solche Server und solche Vernetzungen gibt. So kann ich z.B. auch die Telepolis-Webseite damit aufrufen und dort Nachrichten lesen, die am nächsten Tag auch in der Zeitung stehen, ich kann Nachrichten erhalten von Leuten, die auf Antwort warten und mich, wenn ich nicht antworte, beim nächsten Treffen fragen werden, ob ich keine Mails lese. All das macht die Existenz eines nie gesehenen Netzwerks von Computern, die Nach-richten einsammeln und verteilen, durchaus plausibel.

Aber das ist noch nicht alles. Ich weiß auch, z.B. aus dem Fernsehen, dass es tatsächlich viele Messstationen für Wetterdaten gibt und dass diese alle nach einem standardisierten Verfahren Daten erheben und an zentrale Server weiterleiten. Es wäre zwar möglich, dass die Autoren solcher Sendungen lügen und sich diese Dinge nur ausgedacht haben, aber das passt dann wieder mit vielen anderen Nachrichten nicht zusammen, die ich auf die gleiche Weise erhalte und die ich durchaus nachprüfen kann. Mit diesem Wissen ist es nicht sehr überraschend, dass diese Daten auch an mein Smartphone gesendet werden können.

Auszug aus dem Buch „Kritik der vernetzten Vernunft“ von Jörg Friedrich.

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